Erstes EM-Gold für Deutschland: Geschichte geschrieben!

| 17. November 2019 | 0 Comments
Tim Sebastian und Michail Kraft mit Bundestrainer Igor Blintsov (hier nach Bronze im Mehrkampf)

Diesmal ging es nicht gleich am Tag nach dem Finale wieder in die Heimat: Beide deutschen Mannschaften für die Europameisterschaften der Sportakrobatik, sowohl die Age Groups 11-16 und 12-18 als auch die Junioren und Senioren, besuchten nach ihren Wettkämpfen in Tel Aviv zunächst noch einen Tag die Hauptstadt Jerusalem. „In dieser besonderen Situation zwischen Deutschland und Israel wollen wir uns hier auch abseits der Matte hervorragend präsentieren“, forderte Oliver Stegemann, Präsident des Deutschen Sportakrobatik Bundes, und setzte insbesondere einen Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem aufs kulturelle Programm. Geschichte kennen und verstehen!

Auf der Matte hingegen lautete die Devise: Geschichte schreiben, zumindest Sportgeschichte! Das war das große Ziel, mit dem Tim Sebastian und Michail Kraft (Dresden/Riesa) angereist waren. Und die Sensation gelang tatsächlich: 29 Punkte erhielten sie für die beste Balanceübung von allen Herrenpaaren – und sind damit Europameister!

1978 in Riga suchten Europas Sportakrobaten zum ersten Mal ihre Besten, die Wettkämpfe in Holon vor den Toren Tel Avivs waren bereits die 29. Auflage. Aber niemals zuvor war es Deutschland gelungen, Gold zu holen. Niemals zuvor erklang bei einer Siegerehrung die deutsche Hymne. Zwei Jahre nach dem Gewinn der World Games 2017 in Breslau – (natürlich) ebenfalls eine Premiere für Deutschland – glückte Tim und Michail damit der nächste ganz große Coup; und der endgültige Beweis, dass das Gold in Polen kein Zufall war. Der Dresdner und der Riesaer stellten ein weiteres Mal eindrucksvoll unter Beweis, dass sie die besten deutschen Sportakrobaten aller Zeiten sind. Und wenn sie in der Kombiübung den Abgang nach ihrem Hand-Hand-Vorwärtssalto hätten vermeiden können: Wer weiß, welche Farbe die Medaille im Mehrkampf dann gehabt hätte…

Europameister!

So blieb es bei Bronze. Doch dieser dritte Platz im Mehrkampf war die Grundlage für Gold in Balance, erklärt Tim Sebastian: „Silber wäre es ohne den unlogischen Abgang im Mehrkampf sicher geworden, vielleicht sogar Gold. Trotzdem war diese Medaille immens wichtig: Denn dadurch war der riesige Druck auf uns weg, weil wir unsere Medaille sicher hatten. Und so konnten wir mit einer gewissen Ruhe ins Balance-Finale gehen und die Übung auch genießen.
Für uns gab es nur ein Ziel in diesem Jahr: EM-Gold in Balance. Darauf haben wir alles ausgerichtet, genau genommen sogar schon seit zwei Jahren. Bei der letzten EM haben wir die Balance-Goldmedaille nur um ein Zehntel verfehlt. Das war sehr schmerzhaft. Im Lauf des Jahres bei den Welt Cups kamen zwar ein paar Zweifel auf, weil das russische Paar immer sehr stark war. Aber der Traum war trotzdem immer da. Nach der Balance-Quali haben wir dann gewusst, dass es wirklich möglich ist. Und nach der Finalübung waren wir uns recht sicher: Das kann reichen! Die zwei Jahre Arbeit haben sich gelohnt. Das war natürlich ein sensationeller Abschluss der EM für uns.
Die Siegerehrung war dann ein ganz großer persönlicher Moment für uns beide, den wir einfach nur genießen konnten. Und es war anders als damals bei den World Games: Diesmal war eine große deutsche Mannschaft dabei. Es kam nicht völlig unerwartet. Und wir hatten das alles schon mal miterlebt und wussten, was auf uns zukommt. Der historische Aspekt, dass es das erste Gold für Deutschland ist, schwang in dem Moment allerhöchstens ein bisschen mit. Das realisieren wir vermutlich erst irgendwann mal nach unserer Karriere so richtig.“

Ob es am Windschatten bzw. an der Sogwirkung der beiden Ausnahmeathleten Tim und Michail liegt oder sich die deutsche Sportakrobatik gerade generell im Aufwind befindet: Die Goldmedaille war die Kirsche auf einer ganzen Torte von guten Leistungen und Platzierungen.

Eine Altersklasse tiefer stehen bei den Junioren schon die Nachfolger parat: Nils Beuven und Erik Pohl (Riesa) verpassten nur um einen Rang und den sagenhaften Wimpernschlag von 0,04 Punkten nach drei Übungen die ersehnte Mehrkampfmedaille. Mit ihrer Kombiübung knackten sie sogar die 28-Punkte-Marke. Ebenfalls Platz vier wurde es in Balance und Platz fünf in Tempo.

Daniel Blintsov und Xenia Mehlhaff

Und auch in der Königsklasse selbst, das heißt bei den Senioren, brauchten sich die anderen deutschen Teilnehmer keinesfalls verstecken. Übrigens alle aus Dresden, dem schon bald offiziellen (und de facto schon längst bestehenden) Stützpunkt des Deutschen Sportakrobatik Bundes (DSAB): Sarah Arndt, Anika Liebelt und Vanessa Riffel erzielten mit Platz sieben im Mehrkampf und in Tempo sowie Platz acht in Balance höchst respektable Ergebnisse, stolze 27,72 Punkte waren ihr Highscore im Tempo-Finale. Und wenn Erik Leppuhner, Sebastian Grohmann, Vincent Kühne und Carl Frankenstein nach der letzten WM nahtlos hätten weiterarbeiten können, wäre der Abstand zu den Medaillenrängen sicher deutlich moderater gewesen, selbst wenn im Mehrkampf und in Balance Rang vier und in Tempo Rang fünf heraussprangen.

Weitere Finalteilnahmen (Platz fünf in Balance, sechs in Tempo und sieben im Mehrkampf) verbuchten bei den Junioren Daniel Blintsov und Xenia Mehlhaff. Doch trotz guter Platzierungen bleibt dieses Mixed Paar leider unvollendet. Denn ohne ein einziges EM- oder WM-Edelmetall um den Hals dürften alle Beteiligten nach fast vier Jahren letztendlich enttäuscht auseinander gehen – vor allem angesichts des einmaligen Aufwandes und der vermutlich meisten Opfer für deutsche Sportakrobatikverhältnisse. Fast vier Jahre lang lebte die Kasselerin Xenia Mehlhaff in Riesa und trainierte dort mit Daniel Blintsov für das gemeinsame große Ziel. Doch nach einem unglücklichen vierten Platz bei der EM 2017 und einer verpatzten WM 2018 reichte diesmal auch eine gute Leistung gegen zahlreiche starke Konkurrenz nicht für die erträumte Medaille. Jetzt kehrt Xenia zurück nach Kassel. Daniel startet mit Pia Schütze vom SC Hoyerswerda einen neuen Anlauf.

Die starke deutsche Bilanz bei den Junioren und Senioren lautet, dass man in den sieben besetzten Disziplinen und damit 21 Wettbewerben nur fünfmal nicht unter die besten Acht kam.

Lena Bednarz und Selima Wadim

In den beiden Age Groups 11-16 sowie 12-18 sorgten Lena Bednarz und Selima Wadim vom SC Hoyerswerda (Age Group 12-18) mit 26,95 Punkten und Platz 5 von 20 Paaren mit nur vier Zehnteln Rückstand auf Bronze im Finale für das Highlight aus deutscher Sicht. Die beste Platzierung gelang der Dresdner Herrengruppe mit Tom Mädler, Danny, Ködel, Aaron Borck und Ben Ködel. Sie gewannen ebenfalls in der Age Group 12-18 mit 25,75 Punkten die dritte deutsche Medaille bei dieser EM: nochmal Bronze!

Siehe auch: DSAB-Stimmen zur EM

Auf dem Weg zur nachhaltigen Imageverbesserung?

Je homogener sich eine Nation auf hohem bis höchstem Niveau präsentiert, und das natürlich über Jahre, desto eher kann auch mal eine nachhaltige Imageverbesserung gelingen. Und Image ist bekanntlich (fast) alles: Dass vor allem bei einer EM noch „nach Flagge“ gewertet wird, leugnet eigentlich niemand. Ziel müsste also sein, die Kampfrichter nach und nach daran zu gewöhnen bzw. dazu zu erziehen, bei Deutschland erst gar nicht über eine niedrige Wertung nachzudenken. Topleistungen müssen die Regel sein, Ausreißer ins Mittelmaß darf es möglichst nicht geben. Dafür müsste allerdings bei der Nominierung noch rigoroser ein noch höherer Standard vorausgesetzt werden, um wirklich Homogenität auf hohem bis höchstem Niveau zu erzielen.

Blick über den Tellerrand

Aber nicht nur Deutschland gelang in Holon Historisches: Zum ersten Mal überhaupt bei einer Europa- (oder Welt-)meisterschaft gewann Österreich eine Medaille – und dann auch noch gleich bei den Senioren: Eva Gasser und Franziska Seiner holten in Balance Bronze. Ebenfalls zum ersten Mal eine Seniorenmedaille – die waren allerdings bereits in der Jugend und bei den Junioren erfolgreich – holten die Niederlande: Fenne van Dijck und Stef van der Locht gewannen im Mixed Paar Mehrkampf-Bronze. Das regelmäßige Engagement des englischen Trainerstars Neil Griffiths zeigt sichtlich Wirkung!

Israel ist auf dem besten Weg zur Sportakrobatiknation Nummer eins, auch wenn bei den Senioren nach einem kleinen Umbruch diesmal Flaute herrschte. Dennoch sollte sich Russland warm anziehen: Bei den Junioren holten die Gastgeber drei von fünf Mehrkampftiteln und sieben von 15 Goldmedaillen insgesamt. Damit waren sie natürlich die mit Abstand beste Nation. Das Spektakuläre am kometenhaften Aufstieg der Israelis ist, dass er in nicht einmal zehn Jahren stattgefunden hat. 2012 stand auf dieser Webseite geschrieben: „Israel ist in den letzten Jahren an Deutschland vorbeigeflogen wie ein Ferrari an einem LKW.“ Und damit war noch lange nicht Schluss.

In der Königsklasse herrscht aktuell erfreuliche Vielfalt: Die fünf Titel im Mehrkampf gingen immerhin an vier verschiedene Nationen (RUS, BEL, GBR, POR). Insgesamt holten bei den Senioren elf Nationen Edelmetall (zusätzlich noch AUT, AZE, BLR, GER, ISR, NED, UKR). Die Zeiten, in denen Russland und England fast alles unter sich ausmachten, sind erstmal vorbei. Zum einen haben sie nachgelassen, zum anderen haben die Verfolger aufgeholt.

Die größte Kuriosität dieser EM lieferte das englische Junioren-Herrenpaar Samuel Large und Sammi Nassman: ein Punkt Abzug in der Tempo-Quali. Ihre Übung dauerte 2:12 Minuten, also zwölf Sekunden zu lang. England! Heathrow!! Trainer und Choreograf Andrew Griffiths!!! Man glaubt es kaum… Und es soll bereits der dritte Wettkampf mit dieser Übung gewesen sein – die bisherigen Jurys hatten wohl keine Stoppuhr mit. Fürs Finale setzten sie die Schere an: Bronze!

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Category: EM 2019 in Holon

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