EM-Ziel: zwei plus x Medaillen
Deutschlands derzeitige Vorzeige-Sportakrobaten, die World-Games-Champions Tim Sebastian (Dresden) und Michail Kraft (Riesa) sind furios ins neue Wettkampfjahr gestartet: dreimal Weltcup-Silber in Portugal, den USA und Belgien. Diese frühen Erfolge könnten kaum vielversprechender sein im Hinblick auf den diesjährigen Saisonhöhepunkt, die Europameisterschaft im Herbst in Israel. Ich habe mit den beiden über das Vize-Triple gesprochen.
Schipfel: Glückwunsch zu dreimal Silber. Wie habt ihr das Weltcup-Frühjahr mit Maia (Portugal), Las Vegas (USA) und Puurs (Belgien) erlebt?
Sebastian: Jeder der drei Weltcups war besonders. Vor Maia konnten wir nur eineinhalb Wochen richtig trainieren, weil ich mir Anfang Dezember außerhalb des Trainings den Fuß angebrochen hatte und ihn dann erst wieder hundertprozentig belasten konnte. Wir haben zu Hause quasi nur einmal unsere Übungen durchgeturnt und sind abgereist. Da war Platz zwei hinter Russland zum Jahresbeginn schon sensationell.
Las Vegas war natürlich gigantisch von der Stadt her. Aber der Wettkampf war ganz klein mit nur sieben Herrenpaaren. [In Maia waren es 10 und in Puurs 15.] Da war das Finale vorprogrammiert, wenn sechs von sieben ins Finale gehen. Es waren auch nicht die allerstärksten Nationen da und bei der Ausrichtung gab es sicher auch ein paar Kleinigkeiten zu beanstanden. Es war ja der erste Weltcup dort. Wir hatten schwer mit Reisestress und Jetlag zu kämpfen, deshalb hat unser Parade-Link in Tempo und Kombi jeweils nicht geklappt. 0,01 Punkte hinter Kasachstan auf dem zweiten Platz zu landen, war dann schon sehr, sehr ärgerlich. Die Russen waren in den USA nicht dabei.
Dritte Station war dann Puurs. Eine sensationelle Organisation, für die ist das ja längst Routine einen Weltcup auszurichten. Das Starterfeld war riesig; allein der Weltcup ging knapp drei Stunden. Und alle Disziplinen waren wirklich sehr hochkarätig besetzt. Für uns war das fast wie die WM in Antwerpen letztes Jahr, sehr vergleichbar: wenige Kilometer entfernt, am gleichen Wochenende im Jahr. Mit 15 Herrenpaaren sogar ein Gegner mehr als bei der WM 2018. Jede Nation aus dem WM-Finale war auch wieder am Start. Da musst du schon eine verdammt gute Leistung bringen, um überhaupt ins Finale der besten Acht zu kommen. Mit Balance haben wir sehr, sehr gut begonnen, da waren wir nur ein oder eineinhalb Zehntel hinter Russland. In Tempo haben wir als drittes Paar auf der Matte für unsere Verhältnisse eine super Leistung gezeigt. Zwischen Platz zwei und acht waren in Tempo nur 0,22 Punkte Abstand, das war alles sehr eng. Sobald ein Fehler drin war, hast du keine Chance mehr gehabt. Wir sind dann als Zweite ins Finale. Da galt wie immer: alles oder nichts. Ein russisches Paar haben wir geschlagen, das zweite hat vor uns gewonnen.
Was bedeutet das für die Weltcup-Gesamtwertung?
Sebastian: In der Gesamtwertung der Weltcupserie sind wir ebenfalls Zweiter, hinter Russland. Wären wir in Baku [Herbst 2018] gestartet, hätten wir die Serie gewonnen. Es war am Anfang nicht klar, ob der Weltcup in Baku zur Serie dazuzählt. Bzw. es hieß, dass nur die besten drei Ergebnisse in die Wertung kommen.
Welche Erkenntnisse haben die Weltcups für euch mit sich gebracht?
Kraft: Wir konnten schon ein paar Dinge sehen und daraus lernen, was noch fehlt. Zum Beispiel der Link in Las Vegas. Das haben wir dann in Belgien hingekriegt, dadurch aber andere kleine Fehler gemacht. Diese Erfahrungen werden uns helfen, daraus weiter zu lernen und irgendwann die perfekte Übung hinzukriegen. Auch in Balance gibt es noch Kleinigkeiten, wobei wir in Puurs an der perfekten Übung nahe dran waren.
In Maia und Puurs hatten wir in Balance je 18,1 Punkte in Technik. Manchmal ist bei der Flagge mit Anfassen nicht wirklich eine perfekte Linie da; mit dem Bein bleibe ich da manchmal am Körper hängen. Unser Trainer Igor Blintsov kritisiert uns allerdings schon auf absolut höchstem Niveau. Außerdem ist die Stützwaage manchmal sogar zu tief, also durchgehangen.
Sebastian: Haupterkenntnis ist: Wir sind auch 2019 wieder in der Weltelite. 2018 war ja ein schwieriges Jahr für uns. Da wieder so stark rausgekommen zu sein, macht uns schon stolz. Es gab auch dementsprechend die Anerkennung von den anderen Ländern, dass auf der EM mit uns zu rechnen sein wird.
Ist das aktuelle Programm auch euer Programm zur Europameisterschaft?
Sebastian: Mal schauen, was Igor plant. Er hat da einige Ideen. Vieles hat mit Rechnen zu tun. Bei den Senioren kannst du in manchen Situationen sehr viele versteckte Values gewinnen und auch verlieren. Da muss man immer genau durchrechnen, was am Ende rauskommt. Manchmal sieht ein Element krasser aus, gibt aber weniger Value. Da muss man schauen, was sich am Ende lohnt. Ein deutlich anstrengenderes Element zu turnen, das am Ende drei Value [0,03 Punkte] mehr gibt, ist nicht Sinn und Zweck der Sache. Wenn du dabei dann ein Zehntel abgezogen bekommst, sind das [nach Verdopplung] 0,2 Punkte in der Techniknote weniger, das heißt das Siebenfache von dem, was das Element wert ist. Auf der anderen Seite kann jedes Value entscheidend sein, das ist eine Gratwanderung. In Las Vegas haben wir zum zweiten Mal um 0,01 Punkte eine bessere Platzierung verpasst.
Kraft: Wir werden bei der Deutschen Meisterschaft in Aachen vielleicht ein oder zwei neue Sachen ausprobieren. Es kann aber auch sein, dass unser Programm zur Europameisterschaft dann doch wieder genau dasselbe ist wie bei den drei Weltcups.
Technik ist Tagesform, aber da können wir schon in Richtung 18 Punkte arbeiten. In Artistik waren wir in Puurs ganz oben bei den Herrenpaaren. Trotzdem arbeiten wir daran natürlich weiter und versuchen auch choreografisch immer weitere kleine Verbesserungen hinzukriegen, aber es wird keine neuen Choreografien mehr geben. Wir turnen unsere Balance-Übung seit fünf Jahren. Sie wird in der FIG bei Kampfrichterlehrgängen als Musterbeispiel für exzellente Artistik gezeigt. Das wurde uns zugetragen und macht uns natürlich stolz. Eine neue Übung wäre zu viel Risiko, ob wir wieder auf das Niveau kommen. Aber wir haben uns für neue Anzüge entschieden, um etwas Neues reinzubringen. Das ist dann gleich ein ganz anderer Auftritt. Die sind von Alina Yushko aus Russland.
Für unsere Kombi-Choreo, die wir letztes Jahr neu bekommen haben, gibt es international sehr viel Respekt und Anerkennung von wichtigen Trainern aus Russland. Sergej Jeriomkin aus Hoyerswerda hat sie mal ein wahres Meisterwerk genannt. Alle unsere Choreografien sind von unserer Riesaer Choreografin Inna Atazhanova.
Wie sieht der weitere Fahrplan aus?
Kraft: Die Deutsche Meisterschaft ist natürlich Pflicht. Im Sommer machen wir dann weniger, wir versuchen ein bisschen Pause reinzubringen. Im September ist dann noch ein Weltcup in Lissabon, da steht die Teilnahme für uns zu 98 Prozent fest. Der hat vor zwei Jahren auch schon vor der EM stattgefunden und es war das halbe Starterfeld anwesend. Die Weltcups werden überhaupt international immer besser angenommen. Wir sind froh, uns auf diesem Niveau messen zu können. Sonst steht noch nichts weiter fest.
Mit welchen Zielen fahrt ihr zur EM?
Kraft: Was am Ende rauskommt, steht natürlich in den Sternen. Aber in Balance müsste es eigentlich auf jeden Fall ein Platz auf dem Treppchen werden. In Tempo wäre das auch schön, aber da sehen wir uns selbst eigentlich nicht so weit oben. Da müssen wir das Finale überhaupt erst mal erreichen. Im Mehrkampf mindestens auch eine Medaille. Also zwei plus x Medaillen, egal in welcher Farbe.
Sebastian: Es gibt natürlich viele Träume, die inzwischen sogar unser Trainer Igor ausspricht. Vor zwei Jahren waren wir in Balance verdammt knapp dran an dem, was jeder will. Wir setzen so gut wie alles auf Balance. Das Finale wird sicher gebucht sein und dann wollen wir dort die perfekte Übung auf den Boden bringen. Das Ziel ist aber, fünf perfekte Übungen auf den Boden zu knallen. Wir wollen zeigen, auf welchem Niveau wir immer noch sind. Zwei Medaillen wären schon ein Traum. Die Mehrkampfmedaille hat natürlich die größere Bedeutung und da ist die Farbe dann auch egal. In Balance dürfte es gerne auch mal mehr als Bronze werden. Aber das höchste Ziel ist es, die dritte EM-Balance-Medaille in Folge zu bekommen, was wenige erreicht haben.
Gibt es schon Karrierepläne über Israel hinaus? Von der EM ist es ja immer nicht weit bis zur nächsten WM…
Kraft: Ja, und die WM ist dann Qualifikation für die World Games, das ist ein ewiger Kreislauf… Wir wollen es machen wie die letzten Jahre auch. Wir werden uns nach dem Jahreshöhepunkt zusammensetzen und schauen, ob wir noch Spaß und Freude haben.
Sebastian: Aktuell gibt es keine Pläne aufzuhören. Die WM und die Qualifikation für die World Games sind ja auch immer sehr wichtig für den Verband. Aber für uns ist entscheidend, ob wir noch Spaß daran haben. Wir sind froh, wenn wir auf diesem Niveau turnen können. Wir wollen nur so lange machen, wie wir auf diesem Niveau unterwegs sind. Ende des Jahres werden wir entscheiden. Die EM wird auf keinen Fall unser letzter Wettkampf, wir starten in jedem Fall noch beim Zwingerpokal Dresden.
[Michail absolviert aktuell sein Fachabitur bis voraussichtlich Sommer 2020. Tim studiert derzeit Bauingenieurwesen in Dresden bis voraussichtlich 2021.]
Zuletzt hatte in Riesa ja die Strafanzeige eines Elternpaares gegen Cheftrainerin Nina Blintsov für Schlagzeilen gesorgt. Wie habt ihr das erlebt und wie ist hier der aktuelle Stand?
Sebastian: Nina Blintsov ist kurz vor der Deutschen Meisterschaft 2018 komplett von allen Anklagepunkten freigesprochen worden. Das stand zwar schon lange davor fest, hat aber dann noch ewig gedauert. Seitdem ist sie beim SC Riesa wieder voll dabei wie davor. Der Zeitpunkt der Suspendierung genau zur WM war natürlich maximal schlecht. Auch wenn sie letztendlich nicht unsere Trainerin ist, unterstützt sie uns immer und steht hinter uns. Da hat dann schon was gefehlt und das war für uns Riesaer bei der WM nicht angenehm. Einen unpassenderen Zeitpunkt hätte es nicht gegeben. Jetzt ist aber alles wieder wie vorher. Wir sind ein kleiner Verein, aber eine große Familie. Wie die Sportakrobaten insgesamt halten wir gut zusammen. Jetzt würde bei uns in der Halle keiner mehr darauf kommen, dass es diesen Vorfall überhaupt gegeben hat.
Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für die anstehenden Wettkämpfe!
Category: EM 2019 in Holon, Internationale Meisterschaften, Personalien und Verbandsangelegenheiten