Beste der Welt!
Tim Sebastian hatte es als Erstes gesehen. Er sank neben der Kiss-and-Cry-Area auf Knie und Ellenbogen und vergrub das Gesicht in den Händen. Augenblicke später riss auch sein Obermann Michail Kraft die Arme hoch. Bundestrainer Igor Blintsov stand völlig konsterniert daneben. „Er war von uns am wenigsten bereit dafür“, sagte Sebastian später am Abend über seinen Trainer. Blintsov selbst wunderte sich: „Ich bin noch im Wettkampfmodus: Ich akzeptiere einfach, dass etwas Ungewöhnliches passiert ist. Ich bin sehr froh, aber ich bin ruhig. Ich zittere nicht. Ich hätte gedacht, dass ich bis zur Decke springen muss und weinen vor Glück, wenn Deutschland einmal Gold gewinnt.“
Realisiert hatte es zu diesem Zeitpunkt bestimmt keiner der drei, womöglich haben sie das auch jetzt noch nicht: Sie haben am 25. Juli 2017 um kurz vor zehn Uhr in der Jahrhunderthalle von Breslau Sportakrobatik-Geschichte geschrieben. Schon Stunden vorher mit ihrem Finaleinzug. Erst recht, als nach ihrem Auftritt im Finale als vorletzte Starter die bis dato höchste Wertung angezeigt wurde. Vor China! Vor Belgien!! Und endgültig und ultimativ haben sie Geschichte geschrieben, als dann auch noch die Russen – die amtierenden Welt- und Europameister Nikolay Suprunov und Igor Mishev – über zwei Zehntel hinter ihnen blieben.
Seit fast 50 Jahren suchen die Sportakrobaten weltweit ihre Besten. Noch nie waren das Deutsche (abgesehen von einem kuriosen Experiment in der Disziplin Podest). Dann läuft bei der Siegerehrung der World Games die deutsche Hymne. Da muss man sich schon kurz kneifen… Was für ein Triumph! Was für eine Sensation!!
Und das als Amateure: Michail geht noch zur Schule, Tim verdient seine Brötchen als Betonbauer in Dresden und studiert Bauingenieurwesen. Bis zu viermal pro Woche fuhr er in den letzten Jahren die einfach 50 Kilometer zum Training nach Riesa. Plus die Wochenenden. Ein Tag war frei.
Der Sieg bei den World Games ist das Höchste, was ein Sportakrobat erreichen kann. Wie der Olympiasieg im Turnen. Vielleicht sogar noch schwieriger, denn als Sportakrobat hat man in der Regel nur eine einzige Chance – zumindest mit der gleichen Formation: Vier Jahre und länger kann fast keine Formation Weltklasse-Niveau halten, meist wird der Obermann zu groß und zu schwer. Eine einzige Athletin – Marina Chernova aus Russland, die in Breslau ihren Titel bei den Mixed Paaren mit neuem Untermann verteidigen konnte – war bereits vor vier Jahren in Cali dabei.
Tim Sebastian (Dresdner SC) und Michail Kraft (SC Riesa) stehen jetzt ganz oben. Beste der Welt! Wie konnte das passieren? Ein bis in die Haarspitzen motivierter neuer Bundestrainer hat zwei Diamanten aus Dresden und Riesa zusammengeführt und in drei Jahren zu den besten deutschen Akrobaten aller Zeiten geschliffen. EM-Balance-Bronze 2015. WM-Sechste 2016. Und jetzt Weltspitze! Auch Wochen danach fühlt sich das immer noch an wie ein Traum…
Dass es ein großer Abend werden könnte, deutete sich bereits nachmittags in der Qualifikation an: Mit einer sensationellen Tempo-Übung, lediglich ohne den zuletzt knappen Tsukahara, aber mit ihrem Markenzeichen, dem Hand-Hand-Vorwärtssalto mit direkt anschließendem Rückwärtssalto mit doppelter Schraube, lagen sie nach dem ersten Durchgang bereits auf dem dritten Platz – dabei ist Tempo eigentlich die schwächere Übung der beiden. „Da waren schon noch zwei kleine Wackler dabei, aber sonst war die Übung nahezu perfekt“, so Sebastian später. Im Balance-Durchgang waren sie dann zum ersten Mal an diesem Tag allerbeste und zogen locker als Zweitplatzierte nach der Qualifikation ins Finale ein.
„Ziel erreicht! Der Rest ist Show…“, meinte Sebastian zum Finaleinzug. (Da ging es wie immer bei Null los.) Und was für eine Show das wurde…
Wie schon in den beiden Qualifikationsdurchgängen fiel zunächst der besonders langsame, ja behäbige Einmarsch Richtung Matte auf. Lässigkeit? Konzentration? Angst? Nervosität? Die engeren Vertrauten von Tim sorgten sich angesichts seines kalkweißen Gesichts sogar um dessen Gesundheitszustand und ob er die Übung überhaupt durchstehen würde. War ihm womöglich speiübel?? „Wir waren so entspannt bei diesem ganzen Wettkampf, was keiner von uns beiden verstanden hat. Die Trainingsform war perfekt, wir waren in der Form unseres Lebens. Wir sind so bereit wie niemals gewesen“, gaben die beiden unmittelbar nach der Siegerehrung zu Protokoll. Und dann folgte die beste Übung ihres Lebens: „Im Finale sind wir über uns hinausgewachsen, die technische Leistung war überragend. Wir verstehen es selber nicht. Da ist eine Passage nach der anderen und du denkst: Die Übung ist schon vorbei und du hast noch gar keine Fehler gemacht. Was ist heute passiert?“
„Unser großer Traum war eine Medaille, aber natürlich haben wir da immer an Bronze gedacht“, gestand der Bundestrainer nach der Siegerehrung. Was das Duo ausmache und wie sie sich so sehr steigern konnten? „Mit Tim und Michail sind zwei Ausnahmetalente wie ein Puzzle zusammengekommen. Sie sind wie Brüder und haben für diesen Erfolg sehr viel investiert. Wir waren zweimal beim Zolotov [ehemals Volkov] Cup in Russland und haben uns dort einen Namen gemacht: Wir haben zweimal gewonnen. Wir haben außerdem drei Welt-Cup-Medaillen gewonnen. Wahrscheinlich haben wir mehr Wettkämpfe besucht als alle anderen deutschen Sportakrobaten. Wettkämpfe, die helfen. Das hat sehr geholfen. Leider fehlen dafür dem Deutschen Sportakrobatik Bund die finanziellen Mittel, das meiste bezahlen die Sportler selbst.“
Neben den Heimtrainerinnen Petra Vitera, Ramona Herrmann (beide Dresdner SC), Nina Blintsov (SC Riesa) und den Choreografinnen Inna Atazhanova (SC Riesa) und Stefanie Wittich geht ein besonderer Dank des Bundestrainers auch an die Schlachtenbummler: „Wahnsinn, wie viele deutsche Fans in der Halle waren. Das hat wirklich geholfen!“, bedankt sich der Bundestrainer „Du kommst auf die Matte und wirst sofort unterstützt.“
Auch der Präsident des Deutschen Sportakrobatik Bundes, Oliver Stegemann, war nach Breslau gereist: „Als klar war, dass es nicht nur Silber, sondern sogar Gold geworden ist, da brachen bei vielen von uns im ‚deutschen Block‘ alle Dämme. Erwachsene Männer und Frauen haben vor Glück geweint. Es war einfach grandios!“
Nüchtern betrachtet hatten sich die Deutschen einfach am besten auf das neue Regelwerk eingestellt. Und es ist ihnen auf den Leib geschrieben: Perfektion statt Schwierigkeit! Das war der Schlüssel. Russland, Belgien und alle anderen haben ihre vielen Values schlichtweg nicht fehlerfrei und sauber auf die Matte gebracht.
Nur drei verschiedene Nationen holten in den fünf Sportakrobatik-Disziplinen Gold. Die Dominanz der Russen, die den Titel bei den Damenpaaren, Damengruppen und Mixed Paaren gewannen, durchbrach neben Deutschland bei den Herrenpaaren nur noch England bei den Herrengruppen. Im Medaillenspiegel der Sportakrobatik musste Deutschland auf Rang drei England noch den Vortritt lassen, im finalen Medaillenspiegel der World Games insgesamt belegte Deutschland auch dank des Titels von Tim und Michail den zweiten Platz hinter Russland.
Anders als Tim und Michail, die sich die Qualifikation für die World Games und damit ihren Karrierehöhepunkt bei der WM 2016 in China hart erkämpft hatten, kam die zweite deutsche Formation zu ihrem Einsatz in Breslau eher wie die Jungfrau zum Kind. Für Alina Heinowski, Annalena Kunz und Anna Hannemann aus Oldenburg waren die World Games die erste internationale Meisterschaft überhaupt. Eigentlich hatte Deutschland – damals noch mit einem Trio aus Schwerin – in der Disziplin Damengruppe die Qualifikation zu den World Games verpasst. Aber vor einigen Monaten wurde doch noch ein Startplatz frei. Die Schwerinerinnen hatten ihre Karriere inzwischen beendet, der Bundestrainer entschied sich für das erst ganz frisch zusammengestellte Trio aus Oldenburg. Zu Recht: Mit Platz fünf verkauften sie sich äußerst teuer und ließen mit China sogar einen Gegner hinter sich. Was für ein Highlight gleich zum Auftakt der gemeinsamen Karriere!
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