EM in Riesa: Woran wird man sich erinnern?
Medaillenspiegel EM 2015 in Riesa (alle Altersklassen)
Nach zwei Wochen, sieben Wettkampftagen und aberwitzigen 109 verteilten Medaillen stellt sich die Frage: Was bleibt von der Europameisterschaft 2015 in Riesa? Wohin führt der Weg der europäischen Sportakrobatik? Was waren die Höhepunkte, was die Enttäuschungen? Woran wird man sich vielleicht in ein paar Jahren erinnern, wenn man an die Wettkämpfe in der Sachsenarena zurückdenkt?
Vor allem das: Seit dieser EM muss man Israel endgültig immer nennen, wenn es um die Top-Nationen der Sportakrobatik geht; in einem Atemzug mit Russland, England, Belgien, Portugal und Weißrussland. (Und eigentlich auch noch der Ukraine.) Bei den Senioren gelang der israelischen Herrengruppe mit ihrem Durchmarsch gleich dreifach Historisches: Ihre drei Goldmedaillen sind die ersten internationalen Titel überhaupt für die Israelis.
Sogar noch wesentlich besser ist die nächste Generation, die da in Israel heranwächst und sich in den Altersklassen 11 bis 16 Jahre und 12 bis 18 Jahre ganz exzellent präsentierte. Mit nur zwei Medaillen und ohne Titel kamen da die Israelis wahrlich schlecht davon, sie hätten eindeutig mehr verdient.
Georgy Pataraya und Marina Chernova das beste Mixed Paar aller Zeiten
Das Maß aller Dinge war in Riesa einmal mehr Russland, das fast dreimal so viele Titel gewinnen konnte wie sein nächster „Verfolger“ England. Und dabei hatte ich sogar den Eindruck, dass es in den letzten Jahren schon deutlich stärkere russische Mannschaften gab. Insbesondere bei den Senioren konnten die Damengruppe und das Herrenpaar das extrem hohe Niveau ihrer zurückgetretenen Vorgänger nicht halten.
Auf der anderen Seite gibt es da das Damenpaar Daria Guryeva und Daria Kalinina (Doppel-Europameisterinnen) und vor allem das russische Mixed Paar: Georgy Pataraya und Marina Chernova sind vielleicht die besten Sportakrobaten, die es je gegeben hat. Definitiv sind sie das beste Mixed Paar aller Zeiten. Über 89 Punkte im Mehrkampf sind eine souveräne Demonstration ihrer Überlegenheit, keiner ihrer fünf Auftritte blieb unter 29,5 Punkten. So schwierig und dennoch so technisch einwandfrei hat noch niemand vor ihnen geturnt. Mit fast schon unverschämter Leichtigkeit bestätigten sie in Riesa ihren Dreifachtriumph von Baku.
Nach den Russen kommt zurzeit also lange nichts. England hat bei dieser EM sehr geschwächelt und Russland fast kampflos das Feld überlassen. 33 zu 17 Medaillen ist für den zuletzt einzigen wirklichen Konkurrenten Russlands eine Klatsche. Bei der „echten“ EM, also bei den Senioren, gelang den Briten kein einziger Titelgewinn. Liegt es daran, dass die Griffiths-Brüder seit inzwischen fast eineinhalb Jahren fehlen?
Immerhin kommen von der Insel die beiden besten Formationen der Junioren-EM: Lewis Watts, Conor Sawenko, Charlie Tate und Adam Upcott (Dreifach-Europameister bei den Herrengruppen) sowie Casey Ely, Ilisha Boardman und Niamh Meaney (Mehrkampf-Europameister bei den Damengruppen). In puncto Show waren die Vorstellungen der vier Jungs für meinen Geschmack die Höhepunkte der gesamten zwei Wochen in Riesa.
Da kann selbst das belgische Trio Julie van Gelder, Ineke van Schoor und Kaat Dumarey nicht mithalten, oder besser gesagt: So langsam hat man sich an ihren Übungen sattgesehen. Die sind herausragend, keine Frage, aber bis zur WM 2016 in China hätten sich die drei choreografisch wieder einmal neu erfinden müssen, wenn sie Weißrussland nochmal hätten schlagen wollen. Zu diesem Duell wird es aber nicht mehr kommen: Nach einem fast perfekten Jahr mit dem Durchmarsch bei den Europaspielen in Baku und jetzt zweimal Gold und einmal Silber (Tempo) gehen sie jetzt in den Ruhestand.
Da könnte es vorübergehend etwas dünn werden bei unseren belgischen Nachbarn: Nach den Europaspielen hatte bereits das Mixed Paar seine Karriere an den Nagel gehängt. Immerhin steht je ein Damenpaar in den Altersklassen Junioren und Senioren bereit – die Juniorinnen holten sogar Dreifach-Gold, die Seniorinnen einmal Bronze. Und ein Herrenpaar: Den kompletten Medaillensatz inklusive Mehrkampf-Gold für Vincent Casse und Arne van Gelder kann ich allerdings nicht nachvollziehen. Ich habe die beiden immer nur höchstens auf Rang drei gesehen hinter den großartigen Ilya Rybinski und Yauheni Novikau aus Weißrussland (allerdings ohne Titelgewinn) und Russland (zwei „kleine“ Titel).
Apropos: Für Weißrussland gab es zwar die zweitmeisten Medaillen (19), aber fünf andere Nationen haben mehr Titel gewonnen. Belarus nur zwei. Es drängt sich das Gefühl auf, dass den Weißrussen momentan die Lobby bei den Kampfrichtern und an den Jurytischen fehlt. Das „Pumuckl-Trio“ Katsiaryna Barysevich, Karina Sandovich und Veranika Nabokina mit den feuerroten Haaren ohne Titel nach Hause zu schicken ist ja fast schon frech. Genauso wie beim oben genannten Herrenpaar.
Bleibt von den goldenen Nationen noch Portugal. Definitiv seit einiger Zeit eine Top-Nation, nicht zuletzt weil es den Portugiesen gelungen ist, choreografisch einen eigenen Stil zu kreieren und zu etablieren. Außerdem ist Stimmung garantiert, auf den Rängen jubeln die Portugiesen ihren Teamkollegen immer lauter zu als jede andere Nation. Dazu noch der nötige Einfluss in der Jury. Mir persönlich fehlt alleridngs ein wenig der Zugang, ich weiß selber nicht warum…
Ukraine ohne Titel
Wenn auch angesichts der aktuellen politischen Lage voll und ganz verständlich, ist das Abschneiden der einstigen Sportakrobatik-Großmacht Ukraine ohne einen einzigen Titel und mit nur sieben Medaillen dennoch ein Fiasko. Das Mehrkampf-Finale haben alle ukrainischen Senioren verpatzt – früher undenkbar.
Deutschland konnte sich als eine von zehn Nationen im Medaillenspiegel eintragen und steht dort dank Tim Sebastian und Michail Kraft (Bronze in Balance) sowie Daniel Blintsov und Sneschana Sinkov (Silber bei der Jugend-EM) gemeinsam mit Aserbaidschan auf dem achten Platz. Insgesamt waren übrigens 27 Nationen in den zwei Wochen in Riesa am Start. Zum ersten Mal seit 2007 hat Deutschland mehr als eine Medaille gewonnen. Letztes Jahr bei der WM in Paris waren wir sogar gänzlich leer ausgegangen. Und ebenfalls erstmals seit 2007 gab es wieder einmal eine Medaille in der höchsten Alters- und Leistungsklasse. Was für ein Einstand für Bundestrainer Igor Blintsov! Im Detail werde ich dem Abschneiden der Deutschen demnächst nochmal einen separaten Beitrag widmen.
Last but not least noch kurz ein Satz zu drei unserer Nachbarn: Im Jahr nach der Heim-WM in Paris präsentiert sich Frankreich desaströs: Mit gerade einmal drei Formationen nahmen die Franzosen in Riesa teil, keine kam auch nur unter die Top Ten. Letztes Jahr waren es noch zwölf Formationen und Senioren-Bronze – wenn auch dubios – fürs Damenpaar. Dafür war ein deutlicher Leistungsschub Österreichs bei der Jugend-EM zu verzeichnen. Und die Niederlande verbessern sich nach meinem Empfinden ähnlich konstant wie wir und auch auf einem vergleichbaren Level. Allerdings mit selteneren Ausreißern nach oben oder sonstigen Glücksfällen, die auch mal eine Medaille bescheren. Die letzte für die Niederlande datiert von 2011.
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