WM-Bilanz (2): Fast nur verdiente Sieger
Die 23. Weltmeisterschaften der Sportakrobatik 2012 in Orlando sind Geschichte, bereits seit über einer Woche. Höchste Zeit für eine WM-Bilanz in drei Teilen: Erst ein Resümee der Veranstaltung an sich, dann ein Blick auf die Weltspitze und zum Abschluss eine Einordnung der Leistungen des deutschen Teams. Nun also über die Weltspitze…
Jeder hat ja mitbekommen: Die Jury, also das Technische Komitee für Sportakrobatik in der FIG, hat zum Teil kräftig die Wertungen der Kampfrichter korrigiert. Das konnte man weltweit live im Internet mitverfolgen, fünf volle Wettkampftage lang. Allerdings offenbar ohne das Wissen der Jury, denn beim Finale der Jugend- und Junioren-WM – am letzten Tag – ließ sie das Live-Ergebnis-System abschalten (und machte sich dadurch ein wenig lächerlich). Den Damen und Herren war kurz vor dem Ende der Weltmeisterschaften klar geworden, was im Live-Ergebnis System so alles angeziegt wird.
Warum hat das Technische Komitee so ein Problem mit Transparenz? Wenn Korrekturen nötig sind, ist es doch völlig okay, dass die Jury sie vornimmt. Dafür gibt es die Jury doch! Solange die Entscheidungen objektiv sind und sich in den Korrekturen keine Manipulationen widerspiegeln, ist doch alles okay. Das darf doch dann auch jeder mitbekommen…
Wie auch immer: Trotz oder wahrscheinlich eben gerade wegen dieser Korrekturen der Jury haben mit ganz wenigen Ausnahmen diejenigen gewonnen bzw. es aufs Treppchen geschafft, die das auch verdient haben. Allzu viel Diskussionsstoff haben diese Weltmeisterschaften nicht geliefert.
Russland und England holen Edelmetall in fast allen Kategorien!
Russland und England sind unangefochten an der Spitze: Russland hat insgesamt 15 Medaillen in 16 Wettbewerben gewonnen, zehn davon in Gold. England liegt ganz knapp dahinter mit 14 gewonnenen Medaillen. In der Altersklasse Jugend konnten die Engländer die Russen mit drei vs. zwei Goldmedaillen sogar übertrumpfen. Bei den Senioren war Russland mit zwei Titeln (und dem Titel in der Mannschaftswertung) beste Nation.
Die ultimative Machtdemonstration gab es allerdings bei den Junioren: Dort sackten die Russen alle fünf Titel ein. Zwei dieser Goldmedaillen waren allerdings nicht wirklich gerechtfertigt: Bei den Damengruppen hätten die Belgierinnen Julie van Gelder, Ineke van Schoor und Laure Maes anstelle der Russinnen Kristina Kazantseva, Victoria Ilicheva und Alena Kholod die Goldmedaille verdient, bei den Herrenpaaren hätte der WM-Titel den Weißrussen Yauheni Novikau und Ilya Rybinski besser zu Gesicht gestanden als den Russen Ivan Kuzmin und Stanislav Patrushev. Beide Formationen trennte am Ende jeweils ein winziges halbes Zehntel. Im Großen und Ganzen waren die Ergebnisse aber wie gesagt absolut okay.
Insgesamt neun Nationen konnten sich in den Medaillenspiegel eintragen. Verlierer dieser Weltmeisterschaften sind Portugal und Polen. Beide fuhren ohne eine einzige Medaille nach Hause, das ist durchaus ungewöhnlich.
Hier gibt es nochmal die gesamten Ergebnisse: Senioren | Junioren | Jugend
Prächtige Entwicklung der weltweiten Sportakrobatik
Als Fazit muss man konstatieren, dass spätestens jetzt eigentlich nicht mehr pauschal von den sechs Top-Nationen der Sportakrobatik gesprochen werden darf: Denn Russland und England sind inzwischen den restlichen vieren so weit voraus, dass es ungerecht wäre, alle sechs noch immer in einen Topf zu werfen. Nicht in der Spitze vergrößert sich der Vorsprung von Russland und England, sondern in der Breite. Und da sogar immer mehr: Keine weitere Nation kämpft in jeder Altersklasse und jeder Disziplin um die Titel oder wenigstens die Medaillen mit. Die restlichen Top-Nationen Belgien, die Ukraine, China und Weißrussland holen zwar immer wieder mit einzelnen Formationen, quasi in ihren Spezialdisziplinen, hochverdient eine Medaille oder auch einen Titel; Von der Masse an Leistung, wie sie Russland und England hervorbringt, sind sie jedoch momentan weit entfernt.
Die Weltmeisterschaften in Orlando haben gezeigt: Die weltweite Sportakrobatik entwickelt sich prächtig: Qualitativ geht es immer weiter nach oben. Und was noch viel wichtiger ist: quantitativ auch! Brasilien und Kolumbien feierten ihr WM-Debüt und machten die Titelkämpfe in Orlando zu den ersten echten Weltmeisterschaften überhaupt mit Teilnehmern von allen Kontinenten.
(Subjektive) sportliche Highlights
Zum Abschluss noch einige (subjektive) sportliche Highlights von den Weltmeisterschaften 2012… Übrigens: Fast die gesamte Qualifikation der Senioren-WM, etwa siebeneinhalb Stunden Videomaterial, kann man sich auf dem Youtube-Kanal der FIG nochmal ansehen.
Schwierigkeit:
Balance (Top): Einarmiges Auf- und Abgrätschen von Adel Igissen, Oberfrau des kasachischen Junioren-Trios – die einzige Sportlerin im gesamten Wettkampf, die dieses Element gezeigt hat.
Balance (Basis): Die Pyramide der russischen Senioren-Weltmeister-Damengruppe: Vorderbeuge (oder Turm) von Ekaterina Stroynova auf den Schultern ihrer Partnerin Ekaterina Loginova.
Tempo: Handstand-Handstand-Salto des ukrainischen Senioren-Mixed-Paares Denys Iasynskyi und Inna Batuyeva – sogar im Finale. Ihre Landsleute Dmytro Tarasenko und Yaroslav Pulin (Senioren-Herrenpaar) wagten das nur in der Qualifikation.
Technik:
Immer wieder die Stützwaage von Edward Upcott (Obermann des Senioren-Vize-Weltmeister-Herrenpaares aus England) – so waagrecht wie ein Bücherregal! Einige zeigen die „normale“ Stützwaage zwar ähnlich toll, spätestens aber wenn es um die Stützwaage mit breiten Armen geht, kann (fast) keiner mehr mithalten.
Artistik:
Einmal mehr muss an dieser Stelle die belgische Junioren-Vize-Weltmeister-Damengruppe Julie van Gelder, Ineke van Schoor und Laure Maes genannt werden: In Artistik die beste Formation der gesamten Weltmeisterschaften.
Gefühlvollste Choreografie: Dominic Smith und Alice Upcott (Junioren-Vize-Weltmeister-Mixed-Paar aus England): Im Finale war das Publikum von ihrer wunderschönen Übung zur Musik von Schindlers Liste (in einer Version gespielt von Streichinstrumenten) einfach nur gerührt.
Category: Statistik, Historie & Ehrungen, WM 2012 in Orlando